
Auf welchen Blick es nun Liebe war, lässt sich nicht mehr sagen. Über 52 Jahre ists her. 1968 wars, als Verena ihren Johann in den Flumserbergen kennenlernte. «Ich arbeitete während der Wintersaison im damaligen Baslerhaus, später im Hotel Alpina. Johann setzte sich mit seinen Kollegen jeweils zum Zmittag an einen der Restauranttische. «Er sah gut aus, war kein Schnorri», sagt die fröhliche Frau und blickt zu ihrem Mann, der lesend auf der Couch liegt. «Einmal, als ich Zimmerstunde hatte, fragte er mich, ob ich mitkomme, er müsste Schneeräumen.» Sie fuhr mit, und die «Schleuderei» setzte wohl einige Gefühle frei. Zwei Jahre später heirateten die beiden und schenkten im Lauf der Jahre vier Kindern das Leben.
Ob sie im August ihre Goldene Hochzeit feiern können, weiss nur einer. Und der lässt sich nicht in die Karten blicken. Verena Bartholet seufzt. «Johann hat Krebs in fortgeschrittenem Stadium. Wir sind dankbar für jeden Tag. Geniessen die gemeinsame Zeit.»
Die Diagnose erhielt ihr Mann im Mai 2018, just in der Zeit, als sich Verena Bartholet für die Hospizarbeit interessierte und einen Infoabend in Walenstadt besuchte. «Ich wusste, ich kann Menschen in ihren letzten Tagen begleiten. Kann still am Bett sitzen, kann mit jemandem ein Lied singen oder ein Gebet sprechen. Ganz so, wie es die Patientin, der Patient wünscht. Was im Moment wichtig ist, versuche ich zu spüren. Sorgsam möchte ich mit den Menschen umgehen. Möchte geben, was einem Patienten, einer Patientin Ruhe, inneren Frieden und Freude vermitteln kann.»
Aufgewachsen ist Verena in Unteriberg SZ. Starb jemand, nahmen die Menschen aus dem kleinen Dorf Abschied. «Verstorbene wurden zu Hause aufgebahrt. Gross und Klein statteten ihnen einen letzten Besuch ab. Das war normal. Der Tod gehört zu unserem Leben. Heute ist das ein Tabu-Thema. Kinder werden in der Regel nicht damit konfrontiert. Der Tod sollte nichts Fremdes sein. Nichts Negatives.»
Verenas Vater war grad 65 Jahre alt geworden, als er nach einem Hirnschlag starb. Plötzlich. Unvermittelt. Sein Tod ohne vorherigen Abschied tat weh, hinterliess eine Lücke. «Er war vital und präsent. Für mich wars der schmerzlichste Tod», sagt Verena Bartholet. Die damals 33-jährige Frau suchte Antworten und fand Halt im christlichen Glauben. Später entschloss sie sich, eine katechetische Ausbildung zu machen. Danach gab sie während gut zwanzig Jahren Bibel- und Religionsunterricht an der Primarschule Flums.
Der Glaube gibt Verena Bartholet Kraft
In diesen Tagen muss sich Verena vorbereiten auf die endgültige Trennung von Johann. Seit der Diagnose sind zwei Jahre vergangen. «Wegen einer vorübergehenden Lähmung konsultierten wir den Hausarzt. Der schickte uns nach Ragaz. Johann brauchte ein MRI. Das Resultat erfuhren wir Tage später in der Hausarztpraxis von Dr. Hasler. Er sagte dem Ehepaar, Johann hätte Krebs – mit Metastasen. «Es tönte wie eine Grabrede», sagt Verena Bartholet. Tage später war es Dr. Thomas Warzinek, der als Facharzt weitere Fragen beantwortete, mögliche Therapien erläuterte und dem Patienten Mut machte.
Verena und Johann redeten über die Krankheit, über den Abschied, über das Sterben. So, wie sie es 13 Jahre früher getan hatten. Damals erkrankte Verenas Mutter schwer. Verena Bartholet: «Mami liess alles geschehen, machte Chemos und so. Gedanken an einen möglichen Tod sperrte sie aus. Sie konnte, sie wollte nicht offen mit uns Kindern über das Sterben und den Tod reden.» Verena macht eine Pause. Sagt dann: «Was hats ihr genützt? Nichts. Sie starb ein halbes Jahr später und erlebte keine gute Zeit mehr.» Die Familie ebenso wenig. «Wir sind sieben Kinder. Da treffen die verschiedensten Ansichten über Abschiedsritual und Trauergottesdienst aufeinander. Hätten wir vorher geredet, wären der Familie nach ihrem Tod viele Unstimmigkeiten erspart geblieben.»
Johann entschied sich gegen eine Chemotherapie. Er wollte diese Tortur mit unklarem Ausgang nicht. Verena akzeptiert den Entscheid. Heute pflegt sie ihren Mann. «Er ist ein guter Patient, der nicht klagt und nicht jammert. Im Gegenteil. Dankbar ist er für jede Hilfe. Trotz seinem Entscheid gegen eine Chemo, wird er von der rundum Onkologie-Praxis sehr gut betreut in Palliativ- und Schmerztherapie. «Noch schaffen wir es ohne Spitex. All unsere Kinder sind uns eine grosse Hilfe. Zudem ist unsere Tochter Pflegefachfrau. Sie berät und unterstützt uns. Allerdings sagte der Onkologe zu ihr: ‹Denken Sie daran, Sie sind nicht nur Pflegefachfrau, Sie sind ebenfalls Tochter›.»
Kinder und Enkel nagten am Entscheid gegen eine Chemo. Verena Bartholet: «Wir haben allen von der Krankheit erzählt und ebenso Johanns Entscheid gegen eine Chemo kommuniziert. Alle vergossen wir Tränen. Alle können wir wieder fröhlich sein. Es ist wunderbar, ein so grosses Netz zu haben. Das trägt uns.» Johann nickt. «Geht das Leben dem Ende entgegen, ist die Zuwendung der Familie sehr wichtig. Das Schicksal allein zu tragen, wäre für mich kaum möglich.»
«Es ist nicht fertig in diesem Leben»
Die Stimmung in der rollstuhlgängigen Wohnung ist heiter. «Ich bin überzeugt», sagt Verena, «unser Glaube gibt uns Halt. Wir sind verwurzelt in der christlichen Gemeinschaft, wir beten zusammen. Und weil wir diesen Glauben haben, sind wir beide überzeugt, es ist nicht fertig in diesem Leben. Wenn ich von Johann Abschied nehmen muss, freue ich mich aufs Wiedersehen mit ihm.» Sie lacht. Schaut zu ihrem Mann. «Diese Gedanken helfen, unsere Situation positiv zu sehen.»
Verena sagt, die Krankheit gehe langsam weiter, und sie würden in einer perfekten Wohnung leben. Johann könne hierbleiben, so lang es gehe. «Unser Wunsch ist, dass er zu Hause sterben kann.» Ob das möglich ist, wird die Zukunft weisen. Johann und Verena wissen es nicht. «Es ist eine überaus wertvolle Zeit, die wir erleben. Wir schätzen das Zusammensein, nichts ist mehr selbstverständlich. Das Leben ist begrenzt. Wir geniessen jeden Tag, haben nichts mehr zu streiten.» Verena lacht: «Ich bin eine eher extrovertierte Person, Johann das pure Gegenteil. Früher erschwerte uns dieser Gegensatz das Leben. Heute ist das alles verwischt. Manchmal sagt Johann, ‹Geh doch spazieren, du brauchst das.›» Sie lacht. Sagt: «Das hätte er früher nie gemacht».
Das Ehepaar besprach ebenso die Abschiedsfeier: «Wir sind nicht gleicher Meinung. Johann sagt, ich solle bestimmen, denn ich müsse den Abschied durchstehen und mein Leben ohne ihn organisieren. Wir möchten eine kirchliche Feier machen. Die Lieder sind bestimmt, die Texte ebenfalls. Alle sollen Abschied nehmen können.» Sie schaut mich an, sagt dann: «Gut ist die strenge Corona-Zeit vorbei. Ich bat Gott, er möge noch etwas warten. Sagte, nimm ihn, wenns passt.»
Unser Glaube gibt uns Kraft
Johann Bartholet lehnt sich nicht auf gegen sein Schicksal. Verena ist froh darüber: «Wir sollten offener umgehen mit dem Thema Leben und Sterben. Ich bin der Meinung, die letzte Zeit ist eine wichtige Zeit. Gäbs einen Schlag, und ich wäre weg, fände ich das schlimm.» Vor dem Sterben fürchtet sich Verena Bartholet nicht. «Ich denke, ich kann das. Der Abschied ist ja nicht für immer. Unser gemeinsamer Glaube gibts uns die Kraft, für uns stimmts.» (ms, 19. Juni 2020)
Am Freitag, 9. Oktober 2020 erreichte mich folgendes persönliche Nachricht: Hallo Martin, heute um 4.20 Uhr durfte Johann heimkehren zu seinem Schöpfer und Vater. Wir sind dankbar für die gemeinsame Zeit 😥😍. «Verena, das tut mir leid. Ich wünsche dir viel Energie. Bhüet di.» Martin