
«Es ist immer zu früh, über das Leben und das Sterben zu reden – bis es zu spät ist», sagt Martin Schuppli gerne. «Unser Ende wird kommen. Unausweichlich. Heute. Morgen.» Dieses Wissen, sagt der ü65-Journalist und Autor, habe ihn veranlasst, sich für die Hospizgruppe zu engagieren. Derzeit arbeitet unser Vorstandsmitglied an der neuen Webseite, verfasst Inhalte, schreibt Lebensgeschichten von Begleitenden, von aktiven Mitgliedern. Und weil ein Autor nicht gut über sich selber schreiben könne, sagte Nicole Lymann, sie würde seine Geschichte schreiben. «Danke höfli.»
«Tausche Café gegen Gespräch»
Vor zwei Jahren zügelte der gebürtige «Säuliämter» nach Walenstadt. Seine langjährige Partnerin, eine gebürtige Stadtnerin, ist dafür verantwortlich, dass Martin heute da wohnt, wo andere Ferien machen. «Ich lebte kaum je schöner. Kam rasch mit den Menschen ins Gespräch.» Martin Schuppli wuchs in der südwestlichen Ecke des Kanton Zürichs auf und blieb 55 Jahre seinem Geburtsbezirk treu.
Er ist Vater von 36-jährigen Zwillingsmädchen, Grossvater von drei Enkeln und bald einer Enkelin. Nach der KV-Lehre im Zeitungsverlag Jean Frey AG liess er sich, praktisch von der Strasse weg, zu Ringier locken – und begann mit schreiben. Ein Glücksfall. Die 30 Jahre Journalistenlaufbahn bei Ringier seien beinahe ein Selbstläufer gewesen.
«Bewerben musste ich mich nie, nur entscheiden, ob ich den Job annehmen wollte oder nicht.» Buchstaben wurden Martin genauso in die Wiege gelegt wie das Tauschen. Der Sohn eines Vorhang-Verkäufers lernte das Schreiben und Lesen zuerst in der Familie. War es durch das Geklapper von Vaters mechanischer Schreibmaschine, einer Hermes Baby aus dem Schweizer Feinmechaniker-Unternehmen Paillard-Bolex in Yverdon-les-Bains. Waren es Vaters Geschichten und Reden, seine Leserbriefe, seine Lebensgeschichten für Abdankungsfeiern. Das Engagement des Vaters lebt weiter. Er engagierte sich für Freiheit. Gleichheit. Brüderlichkeit. Toleranz. Humanität.
«Ich fühle mich den Menschen verpflichtet»
Eines sei uns sicher: Martin hatte seine Leidenschaft fürs Leben gefunden. Durch die gelebte Nächstenliebe im Elternhaus erfuhren er und seine jüngere Schwester, wie tauschen geht. «Vater Peter füllte Ende der Fünfzigerjahre die Steuererklärungen der ‹Tschinggen› aus, und sie mauerten ihm den Weinkeller. Diese Freundschaften hielten lange stand.»
Drei Schwerpunkte haben sich daraus entwickelt. Martin Schuppli hört zu, egal woher sein Gegenüber kommt. Er schreibt auf und erzählt, was der Gesprächspartner zulässt – er tauscht «Café gegen Gespräch». Im charmanten Eckhaus von Gusti Zogg selig, beim Lindenplatz in Walenstadt, hat Martin Schuppli sein Büro eingerichtet, um sich seiner Leidenschaft zu «verschreiben». Das Thema ist mutig gewählt. Martin ist fasziniert vom Thema Leben und Sterben. Darüber möchte er reden, Darüber schreibt er. «Mein Leben ist schreiben – schreiben ist mein Leben.»
Kokettieren mit der Extrovertierten-Liste
Martin Schuppli beschreibt sich als Suchenden. Verletzlich, irgendwie einsam, etwas gehemmt und sogar scheu. Kaum zu glauben: Auf der Extrovertierten-Liste mit Skala Eins bis Zehn kokettiert Martin mit der Elf. Diese pflegt er konsequent. Er trägt roten Schuhe, rote Gürtel. An seinem schwarzen Veston glänzt stets ein Pin. Das rote Einstecktuch ist ebenso Programm.
Auf die Hospizgruppe wurde Martin aufmerksam durch ein Inserat im Sarganserländer. Christine Friedli, rief ihn an. Nach dem Infoabend im «Rägeboge» beschlossen beide, sie würden den Palliative-Care-Kurs in Buchs besuchen. Für Martin fast Pflicht. Seit fünf Jahren schreibt er für «DeinAdieu.ch» Geschichten über Leben und Sterben.
Menschen interessieren sich für Lebensgeschichten
Auf diesem Internetportal finden Interessierte alle Formulare, die sie benötigen, ihr «letztes Büro» zu organisieren. Das Einzigartige an diesem Webportal sind seine über 150 Geschichten von Menschen. Von Menschen, die über Leben und Sterben reden. Diese Blog-Beiträge seien die eigentliche Seele des Portals, habe eine Hilfswerk-Mitarbeiterin gesagt.
«Während des Palliative-Care-Kurses, nach Begegnungen mit Rita Betschart, Margrit Rutzer und Verena Bartholet, nach Gesprächen mit Elisabeth Warzinek, mit dir Nicole und mit Bea Grünenfelder, war mir klar: Ich hatte gefunden, was ich lange gesucht hatte. Die Möglichkeit, mich freiwillig zu engagieren. Mich einzusetzen für Menschen in ihrer letzten Lebensphase.», sagt Martin.
Neue Wege bringen neue Bekanntschaften und neue Aufgaben. Christian Hörler war so eine Begegnung. Der Stadtner Seelsorger brachte bei einem Besuch im Schwatzgeschäft das CareTeam ins Spiel. Er habe ihn gefragt, ob er nicht CareGiver werden wolle. «Ich wollte. Diese Aufgabe hat mich gefordert und meinen Erfahrungs-Rucksack bereicherte», sagt der Stadtner. «Aus gesundheitlichen Gründen musste ich mein Engagement im November 2020 beenden».
«Es sind Begegnungen, die mein Leben reicher machen»
Das Salz in der Lebenssuppe, der Schlagrahm auf dem Lebenskuchen sind Begegnungen, die berühren. Einige ganz besonders. Fliessende Tränen gehören dazu, wenn der Autor Gespräche führt und Lebensgeschichten schreibt. Durch das Nachfragen, durch die Detail-Versessenheit sowie das aktive Zuhören entstehen Texte, die in die Tiefe gehen. Als Leserin trage ich den Schmerz einer Antwort mit. Martin bestätigt diese Aussage. Sagt: «Oft geschieht Wundersames.»
«Über die Jahre habe ich gelernt, mich abzugrenzen, nachdem ein Text gegengelesen und publiziert war», sagt Martin. Er hat gelitten, zehn Jahre gehörten schwere depressive Störungen zu seinem Alltag. Ein besonderer Begleiter schützte Martin mehrere Male das Leben. Bilbo, der kleine weisse Hund. Seit sieben Jahren ein treuer Weggefährte.
Heute ersetzt Martin die Therapie-Sitzungen durch schreiben – und flirten. Etwas mehr Leichtigkeit, vielleicht ebenso Heiterkeit, wünscht sich Martin in Bezug aufs Thema Sterben und Tod. Vielleicht so, wie sein Freund Alois Birbaumer aus Luzern. Der ehemalige Kinderarzt sagt: «Sei dir des Todes bewusst und geniesse jeden Tag heiter.»
Die Begegnung mit dem langjährigen Präsidenten von Hospiz Zug in den Neunzigerjahren beeinflusste Martin Schupplis Verhältnis zum Leben und zum Sterben nachhaltig. Die beiden sprechen und schreiben regelmässig über das Thema, versuchen damit, Tabus zu brechen. Das scheint mir ein guter Beitrag zu sein. Übrigens ist Alois Birbaumer seit Kurzem Vereinsmitglied der Hospizgruppe.
«Abschied nehmen, wäre mir wichtig»
Er lebe die letzten Tage seines Lebens, sagt der bald 66-jährige Stadtner gerne. «Zehntausend können es sein». Martin will sie geniessen. Tag für Tag. Stunde für Stunde. Moment für Moment. Er wünsche sich ein selbstbestimmtes Sterben – nach hartnäckig geführtem, selbstbestimmtem Leben.»
Wie würde er seine Gedanken zum Begriff Endlichkeit in drei Worte fassen, will ich wissen. «Ich werde erwartet», sagt Martin. Sterben sei kein Problem. Abschied nehmen, wäre ein Wunsch. «An einem Unfall zu sterben, fänd ich etwas fies», sagt er.
Selbstbestimmt Sterben sei ihm wichtig. Er wolle Verständnis aufbringen für Menschen, die des Lebens satt sind. Er wolle mithelfen, Lösungen zu erarbeiten, damit Betroffene einen würdevollen Weg finden können, sich zu verabschieden. Er wolle allen mit Respekt und Toleranz begegnen, wolle ihnen Gespräche anbieten. Brücken und Bahnschienen seien keine rettenden Pforten. Lok-Führer und Tatortreiniger keine Todesengel.
Die eigene Urne getöpfert
Sie passe in ein Gemeinschaftsgrab, sagt Martin Schuppli und präzisiert. «Etwa in Zürich auf dem Sihlfeld-Friedhof. Dort kenne ich fantastisch schöne Mietgräber.» Diese Antwort folgte auf die Frage, ob Martin nach dem Ableben eine Grabstätte möchte.
«Meine Neugier ist gestillt»
Und mit diesen Worten, so die Vorstellung im Hier und Jetzt, würde sich Martin von diesem Planeten verabschieden. (Text: Nicole Lymann, Herbst 2020)
One Kommentar
evince
8. April 2021 at 9:09
Ein wunderbarer Beitrag, danke dafür.