Brigitte Bigger: «Wir sollten nichts auf Morgen verschieben»

Gehts um Nachtwachen, ist Brigitte Bigger vom Fach.

Brigitte Bigger: «Wir sollten nichts auf Morgen verschieben»

2. Oktober 2020 0
Blog_BrigitteBigger_2_10.9.20-1200x675.jpg

Gehts um Nachtwachen, ist Brigitte Bigger vom Fach. Jahrzehntelang wachte sie im Spital Walenstadt und im Altersheim Riva an Betten von Kranken und Sterbenden. «Diese strenge Arbeit war eine grosse Befriedigung», sagt Brigitte Bigger. «Ich wollte da sein für die Menschen, wollte ihnen helfen. Wir hatten immer wieder Leute, die gestorben sind.» Beim Aufbau der Palliativabteilung war sie dabei. Sagt: «Das ist eine tolle Sache, aber wir hatten wenig Zeit. Konnten uns oft zu wenig um die Angehörigen kümmern.»

Für Brigitte Bigger war es eine gute Zeit im Spital. «Ich machte die Nachtwachen gerne. Weil ich in der Regel alleine arbeitete, nahm ich Verantwortung wahr. Oft kannte ich die Patienten. Sie sagten, schön, wenn du da bist, kann mir nichts passieren. Ihr Vertrauen ehrte mich. Es gab mir ein gutes Gefühl, ich konnte etwas geben.»

Vor zehn Jahren, 2010, hörte sie auf im Spital und wechselte ins Stadtner Altersheim Riva. «Dort waren wir auf der Nachtwache zu zweit. Ich genoss die Gespräche an den Betten. Wir sangen Liedli, die Bewohnerinnen und Bewohner machten Sprüche, sagten ‹dNäbetsee-Wiber sind da›.» Brigitte Bigger lacht. Sagt: «Lag jemand im Sterben, blieb eine von uns bei dieser Person. Ging das nicht, besuchten wir sie oft. Wir behandelten alle Menschen mit grossem Respekt.»

Brigitte Bigger ist ein Näbetsee-Wib. Sie wuchs mit acht Geschwistern in Quarten auf und ist mit Bonifaz verheiratet. Die beiden zogen drei Kinder gross und freuen sich mittlerweile über sieben Enkelkinder. Einige würden in der Nähe leben, sagt sie.

Strenges Schulleben im Kloster
Nach der Schule habe sie Frankreich in einem Kloster gearbeitet, habe die Sprache gelernt. «Wir hatten alle Heimweh, sprachen untereinander deutsch», sagt Brigitte Bigger. Gerne erinnere sie sich an eine liebe holländische Schwester. Dann lacht sie. Sagt: «Einmal schauten wir zu, wie sich zwei Klosterfrauen verprügelten.» Weniger lustig sei die Hausordnung gewesen. Die Mädchen durften nur am Sonntag spazieren gehen – begleitet notabene. Das galt ebenso für den Gang zur Kirche. «Trotzdem. Denke ich zurück, habe ich ein gutes Gefühl.» Um danach Krankenschwester zu lernen, musste sie zuerst ein Jahr als Schwesternhilfe arbeiten. Während ihrer Lehrzeit am Spital Uster lebte sie im Schwesternhaus. Später war sie in der Höhenklinik Wald tätig. Danach verbrachte sie je ein halbes Jahr in Israel und England. Ein Jahr lang arbeitete sie bei einer Familie im Tessin.

Während des Sprachaufenthaltes in England erhielt sie eine Postkarte von der Mutter ihres heutigen Mannes. «Er war mein Favorit. Auf der Karte stand: Verrate mich nicht, aber Bonifaz vermisst dich.» 1980 heirateten die beiden. Und als die Jüngste, Petra, drei Jahre alt war, begann die junge Mutter als Nachtwache zu arbeiten. «Ich schlief am Morgen, kochte dann Zmittag, eine ideale Zeiteinteilung. Bonifaz fuhr Lastwagen für Giger UWA. Sein Leben lang arbeitete er dort. Und heute, nach seiner Pensionierung, steuert eine Nachbarstochter seinen Lastwagen.»

Erstmals mit Leben und Sterben konfrontiert, wurde Brigitte Bigger als sie 13 Jahre alt war. «Dädi hatte Leukämie und starb im Spital. An meinem ersten Tag in der Oberstufe wurde er beerdigt. Schlimm. Ich hatte ihn zu kurz. Oft frage ich mich, was würde Dädi sagen. Eine schwierige Zeit wars. Die Mutter musste vorwärtsschauen. Sie war froh, noch zwei Kinder im Haus zu haben.»

Mutter sagte: «Ich habe mein Leben gelebt»
Im Januar 2000 erkrankte die Mutter an einer schweren Grippe. Sie war im Riva angemeldet. Gemeinsam löste die Familie den Haushalt auf, im September diagnostizierte ein Arzt Lungenkrebs, im Februar war sie tot.

Nach der Diagnose habe sie geweint, erzählt Brigitte Bigger. «Mutter wusste genau, was sie wollte. Sie sagte: ‹Ich habe mein Leben gelebt› und vermerkte handschriftlich, sie wolle an keine Schläuche gehängt werden, wolle keine lebensverlängernden Massnahmen.» Brigitte Bigger schweigt, schaut mich an. «Wir hatten eine gute Zeit. Wenn ich konnte, ging ich nach der Nachtwache zu ihr ins Altersheim. Wir regelten alles, konnten gut reden.» Sie habe sich eine Urnenbestattung gewünscht, habe gesagt, das sei ihr grösstes Problem. Ebenso wollte sie aufgebahrt werden. Die Tochter erwiderte: «Wenn du das willst, schreibs auf. «Wir wachten in der Nacht bei ihr, trugen uns in eine Liste ein», sagt Brigitte Bigger. «Ich bin stolz auf meine Geschwister. In ihren letzten Tagen erhielt Mutter Morphium und konnte im Riva friedlich sterben.»

Im Spital fehlte die Zeit, die Angehörigen zu betreuen
Als Brigitte Bigger auf der Palliativabteilung gearbeitet hatte, mangelte es ihr oft an Zeit für die Sterbenden und ihre Angehörigen. «Damals lernte ich Petra kennen. Sie arbeitete früher tagsüber im Riva. Nicole Lymann kannte ich ebenfalls. Und als ich in der Zeitung las, die Hospizgruppe suche Begleitende meldete ich mich. Denn das war es, was ich wollte, und ich wusste, worauf ich mich einlassen würde.»

Bei der ersten Betreuung, Begleitung massierte Brigitte Bigger der Schwerkranken die Füsse, bis sie sagte, ‹es ist jetzt gut›. Ich wachte drei Nächte. Eines Morgens gings mir nicht gut, die Frau litt starke Schmerzen. Sie tat mir so leid. Aber ich konnte ihr die Schmerzen nicht nehmen.» Sie schweigt. Sagt dann: «Drei Tage später durfte sie gehen.»

Wer sich in der Hospizgruppe engagiert, weiss: Das Leben ist endlich. Brigitte Bigger: «Ich denke, wir sollten nichts auf morgen verschieben. Wir sollte es heute machen.»

«Zeit schenken, befriedigt mich»
Wenn sie am Bett eines Menschen sitze, der die letzte Reise antrete, überkomme sie eine innere Ruhe, sagt Brigitte Bigger. «Wenn ich zu jemandem eine Beziehung aufbauen konnte, ists eine Befriedigung, dass ich Zeit schenken durfte.»

Angst vor dem Sterben habe sie nicht. «Eher vor den Schmerzen. Wohl deshalb habe ich Verständnis für Menschen, die mit EXIT gehen wollen. Für mich kommt dieser Weg nicht infrage.»

Und ans Weiterleben nach dem Tod glaube sie nicht, sagt Brigitte Bigger. «Dann ist aus die Maus.» Wir lachen. Unsicherer antwortet die Quartnerin, als ich sie frage: «Kommen wir wieder?» Sie schaut mich an. Sagt: «Da bin ich unsicher. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, das erlebte ich schon, das sah ich bereits einmal. Könnte ja sein, dass jemand geht und jemand kommt.» Sie zuckt die Schultern. «Ich bin unsicher.»

Nun die obligate Schlussfrage: «Was machts mit dir, wenn ich dir sagen könnte, du schläfst heute Nacht still und friedlich ein? Für immer.» Sie antwortet: «Furchtbar wärs einerseits. Super anderseits.»

Reden über die letzte Lebensphase
Und die Vision für unsere Arbeit. Was wünscht du dir? «Ich hoffe, die Leute lesen sich ein auf unserer Homepage. Ich erzählte bereits vom Projekt mit den Geschichten. Die Reaktionen waren sehr gut. Ich denke, wir sollten vermehrt reden über dieses Thema.» Ich weiss, das Reden ist Brigitte Bigger wichtig. In ihrem nahen Umfeld wollen das nicht alle. Sie seufzt, sagt: «Dabei hätten solche Gespräche eine so grosse Bedeutung. Schliesslich gehört das Sterben zum Leben.» (MS. 16. August 2020)


KOMMENTAR SCHREIBEN

Your E-Mail-Adresse address will not be published. Required fields are marked *


logo-hospiz-sarganserland-weiss

In der Hospizgruppe Sarganserland engagieren sich gegen 60 Freiwillige in der Begleitung und Betreuung Schwerkranker und Sterbender. Ebenso stehen wir Trauernden bei, nehmen uns Zeit für Demenzkranke und unterhalten eine Hospizwohnung in Mels.

Copyright Hospizgruppe Sarganserland

Wir nutzen Cookies, um Ihnen die bestmögliche Nutzererfahrung zu bieten. Indem Sie auf Akzeptieren klicken, stimmen Sie der Verwendung all unserer Cookies zu.