Sigrid Hefti: «Berggipfel sind meine Kirche»

Als Sigrid Hefti im Sommer 1992 in Berlin aufs Velo stieg, um einen Neuanfang zu wagen, war sie 45 Jahre alt.

Sigrid Hefti: «Berggipfel sind meine Kirche»

2. Oktober 2020 0
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Als Sigrid Hefti im Sommer 1992 in Berlin aufs Velo stieg, um einen Neuanfang zu wagen, war sie 45 Jahre alt. Einen Sohn hatte sie alleine grossgezogen, als Kindergärtnerin und Ergotherapeutin hatte sie gearbeitet. Und dann radelte sie über 800 Kilometer bis in die Schweiz. Ihr Plan: als Ergotherapeutin einen Job finden. Erstes Ziel war Herisau, das zweite Glarus. An beiden Orten wollte sie nicht bleiben und arbeiten.

Also nahm Sigrid Hefti den Kerenzer in Angriff. Ahnungslos, was sie auf 743 m ü.M. erwarten würde. «Der Blick von der Passhöhe war grossartig», sagt sie und lächelt. Unter ihr breitete sich der Walensee aus, dahinter thronten majestätisch die Churfirsten, gen Osten weitete sich lieblich das Sarganserland mit den Bündner Bergen am Horizont. «Da wurde mir klar, ich bin angekommen. Hier bleib ich.»

Oben am Walenstadtberg, im Sani, waren die Klinikverantwortlichen ebenso begeistert von der Stellenbewerberin aus Berlin. «Ich hätte gleich anfangen können», sagt sei. «Aber eben, mir gings wie Marlene Dietrich: Ich hatte noch einen Koffer in Berlin.» Nicht nur das, eine Wohnung hatte sie, die eine Freundin übernahm – samt Katze. Und Sohn Mario, mittlerweile 26 Jahre alt, blieb ebenfalls in Berlin mit seiner Familie.

Kindheit in katholischem Notstandsgebiet
Warum dieses Leben abbrechen? Auswandern quasi. Sigrid Hefti schaut mich an. Neuanfänge würden zu ihrem Leben gehören, sagt sie. Aufgewachsen sei sie in Niederbayern, ein nach dem Krieg unterentwickeltes Notstandsgebiet. Sie sei ein reformiertes Kind gewesen in einer katholischen Welt. «Ich erlebte eine Art Religionskrieg. Wir wurden von den Katholiken verkloppt. Niemand durfte mit uns befreundet sein. Es entstanden keine frühen Freundschaften und deshalb gibts keine Klassentreffen.»

18 Jahre alt war Sigrid, als sie ihren Mario gebar. Für ihre Mutter sei eine Welt zusammengebrochen. Sie jagte ihr Kind aus dem Haus. Zuerst liess sich die frischgebackene Mutter mit ihrem Mann in München nieder. Kein gutes Klima für den jungen Vater. Deshalb zügelten die beiden ins geteilte Berlin, wo Sigrid bald merkte, «mit diesem Mann habe ich nicht das grosse Los gezogen. Da gab es ebenso Kneipen, und er fand schnell neue Spezis.» Sie habe sich scheiden lassen, sei ausgezogen und habe ihr Leben als alleinerziehende Mutter organisiert.

Warum hast du dieses Leben abgebrochen? Warum bist du nach 25 Jahren ausgewandert? Sigrid Hefti schaut mich an. «Als wir ankamen, 1967, lag die Stadt teils noch in Trümmern. Wir hatten im Bezirk Tiergarten gewohnt. Ich war zutiefst erschüttert. Eine bedrückende Zeit.» Die endete vorerst, als die Mauer fiel. «Das war grossartig», sagt Sigrid Hefti. Die Luft habe vibrierte in dieser Donnerstagnacht, am 9. November 1989.

Nach der Wende stieg die Aggression in Berlin
Kurz darauf kippte die grosse Freude. Sigrid erlebte Aggressionen, wurde angepöbelt in der U-Bahn. Einmal, sie sei mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, habe sie beobachtet, wie ein Autofahrer einen etwas unsicheren Velofahrer, der den Radstreifen verlassen hatte, hupend bedrängte, die Seitentüre öffnete und den Mann zu Fall brachte. Sie habe ihre Fahrt gestoppt und dem Verunfallten erste Hilfe geleistet. «Damals beschloss ich, die Hauptstadt zu verlassen und irgendwo neu zu beginnen.»

Nicht irgendwo. Im Sarganserland. Anfänglich habe sie in der Klinik gewohnt. Als dann die zurückgelassene Katze in eine Art Hungerstreik getreten war, sei sie noch einmal zurückgefahren, habe in Berlin die Wohnung aufgelöst, habe alles verkauft und sei mit Navidad in eine Bauernhauswohnung in Walenstadtberg gezügelt. 45 Jahre alt war sie. Ungebunden und glücklich. Durch den Wald sei sie jeweils zur Arbeit spaziert. Habe die frische Luft genossen und die herrliche Landschaft.

Auf der Schrina ihren Dominik getroffen
Den Mann zum Glück fand sie auf der Schrina. Dominik hiess er. Gross und stark sei er gewesen. Zwei Stunden hätten sie sich unterhalten. Tage später erhielt sie einen Brief, mit der Bitte um ein Wiedersehen. Heiraten wollte er sie. Sigrid sagte anfänglich nein. Dominik meinte, das gehöre dazu. «Seine Kinder waren etwa im selben Alter wie ich. Sie lehnten mich ab.»

Sigrid und Dominik heirateten 1993, erlebten glückliche Zeiten. Als er 1994 nach Australien auswandern wollte, bestellte sie am Bahnschalter in Walenstadt: «Zweimal Moskau einfach.» Dem Beamten sei die Kinnladen unkontrolliert nach unten gekippt.

Drei Monate waren Sigrid und Dominik unterwegs. Via Moskau reisten sie nach Peking und Hongkong. Dann bestiegen sie einen Flieger nach Australien, besuchten in Adelaide und Melbourne seine dort lebenden Töchter. «Wir kauften einen einfachen Toyota-Camper und entdeckten das weite Land. Nach zwei Jahren ertrug Dominik das kräftezehrende Heimweh nicht mehr. Er wurde krank.» Und so beschlossen die beiden, heimzukehren. 50 Tage dauerte die Reise auf dem Containerschiff von Perth rund um Südafrika nach Rotterdam. Am 30 Dezember 1995 erreichten sie europäischen Boden. Kurz danach lebten sie in Bertchtesgaden, nahe Sigrids Mutter.

Aber das Reisefieber meldete sich noch einmal. Im Jahr 2000 brachen die Eheleute in Deutschland alle Zelte ab. Diesmal reisten sie nur mit Rucksack auf einem Frachtschiff. Ihr Ziel: Australien. Als Ergotherapeutin konnte Sigrid nicht arbeiten. «Ich hätte studieren müssen. Das ging nicht. So verdiente ich Geld mit Seidenmalerei, die ich verkaufen konnte.»

Heimreise auf dem Frachtschiff
Und wieder meldete sich das Heimweh nach zwei Jahren bei Dominik. «Er brach einige Male zusammen, und so schifften wir ein. Diesmal fuhr das Containerschiff durch den Suez-Kanal. Statt 50 waren wir nur 30 Tage auf See.» Eine wunderschöne Zeit wäre es gewesen, sagt Sigrid Hefti. «Stundenlang sassen wir vorne im Bug, genossen die grosse Einsamkeit. Mächtig waren Wasser und Wind.»

Zurück in Europa lebte das Paar zuerst in Berchtesgaden bei Sigrids Mutter. Die Wogen zwischen den beiden Frauen waren längst geglättet. Aber in Deutschland eine Krankenversicherung für Dominik abzuschliessen, entpuppte sich als grosse Hürde. Wieder landeten die beiden in Walenstadtberg. Und jetzt wäre Sigrid bereit gewesen, sich einbürgern zu lassen. Wäre. «Ich sollte vier Leute benennen, die bezeugt hätten, dass wir physisch und sozial ein Ehepaar sind.» Sie schaut mich etwas entsetzt an. Sagt: «Wie geht denn das? Wer soll das beweisen? Etwa Remo, der Pöstler?» Sie lacht. «Ich zog den Antrag zurück. Und weil ich bockig bin, besitze ich immer noch keinen roten Pass.»

Die beiden mieteten ein ehemaliges Maiensäss. Dominik, gelernter Schmied, war handwerklich begabt, und so wohnte sie bald einmal in einem wahren Bijou. Die ehemalige Güllegrube war einst zum Pool umgebaut worden, das Haus ein Schmuckstück. Nach fünf Jahren war Schluss. Der Besitzer machte Eigenbedarf geltend. Sigrid und Dominik suchten ein neues Zuhause und fanden ein weiteres Mietobjekt – ebenfalls in schlechtem Zustand. «Wir renovierten es zwei Jahre lang. Ich konnte zu Fuss in die Klinik gehen.»

Nach der Krebsdiagnose blieben 30 Tage
Das Glück dauerte einige Jahre. 2016 erkrankte der sportliche und immer kerngesunde Dominik. Der Arzt diagnostizierte Darmkrebs im Endstadium. Dem todkranken Mann blieben kaum 30 Tage zu leben. Im Spital bleiben wollte er nicht, die Palliativstation sei keine Alternative, habe er gesagt. Zu Hause wollte er selbstbestimmt die letzte Reise antreten. Mit EXIT. «Ich stimmte zu», sagt Sigrid Hefti. «Dominik zeigte mir, was er immer alleine erledigt hatte. Wir gingen zusammen in den Wald, ich lernte Holzen und Spalten. Vier intensive Wochen waren es. Dann, knapp eine Woche vor seinem 89. Geburtstag, am Donnerstag, 2. Juni 2016, kam die Ärztin von EXIT. Liebevoll betreute sie uns. Bis am Schluss hätte es sich Dominik anders überlegen können.» Sie schluckt, wischt sich Tränen von der Wange. «Ich bin ebenso bei EXIT. Diese Reanimationswut in den Spitälern will ich nicht mitmachen.» Und weil das Sigrid Hefti sehr ernst meint, liess sie sich über dem Herzen den Schriftzug «No reanimation» tätowieren. Dominik hatte das danach ebenfalls gemacht.

Der harte Grossvater weinte, als Oma starb
Erstmals mit Leben und Sterben, mit dem Tod konfrontiert, wurde Sigrid Hefti als Zehnjährige. «Damals, 1957, starb meine Oma. Ich kannte sie nur im Bett liegend. Was Oma hatte, sagte mir niemand. Es waren wohl Depressionen, aber darüber sprach man nicht. Die Reaktion meines Grossvaters erschütterte mich. Er war ein harter Mann, der nun bittere Tränen vergoss. Das berührte mich. Ich spürte die Endlichkeit.»

Sigrid Heftis Mutter starb vor zwölf Jahren. «Ich bin regelmässig zu ihr nach Berchtesgaden gereist. Sie litt unter Nierenproblemen. Bevor sie starb, war ich jeden zweiten Monat bei ihr. Habe sie so gut wie möglich begleitet.» Begleitungen machte sie auch in der Rehaklink. «Neben meiner Arbeit als Ergotherapeutin betreute ich in der freiwilligen Nachtwache Menschen, die an Hirntumor erkrankt waren. Ich spürte, die Leute wollen nicht alleine sterben.»

Seit November 2019 engagiert sich Sigrid Hefti in der Hospizgruppe. «Eigentlich wollte ich mich schon viel früher melden, denn mir ist klar, ich kann was geben. Was genau es ist, weiss ich nicht.» Für Sigrid Hefti ist klar: «Wir müssen uns mit dem Tod auseinandersetzen. Es ist nur richtig, wenn man Leben und Tod zusammen erwähnt.

«Ich bin bereit zu sterben, wenns denn sein muss»
Vor dem Sterben habe sie keine Angst, sagt Sigrid Hefti. «Ich hatte ein erfülltes Leben. Während der Corona-Zeit habe ich mein Haus aufgeräumt. Verbrannte die 30 selbstverfassten Reisebücher, scannte Fotos ein. Gelesene Bücher bringe ich in die Brockenstube. Was ich nicht mehr benötige, verschenke ich. Alles ist geregelt. Ich bin bereit zu sterben, wenns denn sein muss.»

Glaubst du an ein Weiterleben nach dem Tod, will ich wissen. Sigrid Hefti nickt. «Ja. Ich glaube das. Die Natur macht uns das Weiterleben vor. Stirbt ein Baum, zerfällt er und neues Leben entsteht. Dominiks Asche trug ich auf eine Terrasse am Schwarz-Tschingel im Glarnerland. Vor einigen Tagen stieg ich wie so oft hinauf, redete mit ihm. Diesmal lag schon wieder Schnee.» Sie lächelt mich an. Sagt: «Die Berggipfel sind meine Kirche.»

Ob wir wiederkommen, weiss Sigrid ebenso wenig wie ich. «Eine Antwort habe ich noch keine gefunden. Einmal sah ich im Traum wie Dominik mit einem Kollegen am Tisch sass. Dieser ertrank einst im See. Ich fragte mich, warum träume ich das? Ob ich die Beiden mal wiedersehe.»

In der Todesanzeige von Dominik «Nigg» Hefti lese ich ein wunderschönes Zitat: «Die Erinnerung ist ein Fenster, durch das wir dich sehen können, wann immer wir wollen.»

Meinen Körper vermache ich der Wissenschaft
Letzte Frage: Was machts mit dir, wenn ich dir sagen könnte, du schläfst heute Nacht still und friedlich ein. Für immer. «Prima wäre das.», sagt Sigrid Hefti. «Ich habe alles aufgeschrieben. Dann ist es so. Schwer habe es die, die Zurückbleibenden. Meinen verstorbenen Körper vermache ich der Wissenschaft.»

Ich schaue Sigrid an. Sage: «Ich möchte nicht so plötzlich, so unvermittelt sterben. Vorher will ich noch ein Fest machen, mich von allen verabschieden.» Sie lächelt mich an. Sagt: «Dann mach das Fest jetzt.»

Ich nicke und überlege mir, wer mir das Tattoo stechen soll. (MS, 9. August 2020)


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