Nicole Lymann: «Gute-Erlebnis-Zettelchen steck ich ins Glas»

Erlebe ich schöne Momente, schreib ich sie auf und stecke sie ins Glas. Ende Jahr lesen sie ein zweites Mal, bedanke und freue mich bewusst.»

Nicole Lymann: «Gute-Erlebnis-Zettelchen steck ich ins Glas»

16. November 2019 0
Blog_NicoleLymann__30.6.20-1200x675.jpg

15 Jahre ist es her. Nicole Lymann belegte 2005 den Caritas-Kurs «Nahe sein in schwerer Zeit». Die Ausschreibung weckte das Interesse der Mutter vier erwachsener Söhne: «Die Begegnung mit schwer kranken und sterbenden Menschen erfordert Respekt, Offenheit und Einfühlungsvermögen. Der Grundkurs möchte entdecken helfen, wie wir für Menschen am Ende ihres Lebens da sein können. Der Kurs bietet Gelegenheit, sich mit der eigenen Sterblichkeit, mit dem Tod und mit dem Abschied auseinanderzusetzen. Kursteilnehmer lernen, die Wünsche und Anliegen schwer kranker Menschen wahrzunehmen und achten dabei auf ihre eigenen Grenzen.» Nicole Lymann war beeindruckt. Nach dem Kurs wusste sie, «da will ich was aufbauen». Sie gründete die Hospizgruppe Walenstadt. War Frau der ersten Stunde.

Als Gruppenleiterin koordiniert und plant Nicole Lymann zusammen mit Bea Grünenfelder die Einsätze der Begleitenden in der Region Walenstadt-Quarten, Flums. «Wenn alle Stricke reissen, sitze ich selbst am Bett, hüte das Pikett-Telefon, führe Gespräche und höre zu. Egal wann und wie lange.» Zudem nimmt sie in der Kantonshauptstadt Aufgaben wahr, die Freiwilligenarbeit in unserer Region zu positionieren. Etwa in der «Interessengemeinschaft Freiwillige Kerngruppe» sowie im «Forum Sarganserland».

Die Leidenschaft für Menschen entdeckt

Auf die Frage, warum sie sich derart stark engagiere, sagt Nicole Lymann. «Ich liebe Kinder und alte Menschen. Schon früh entdeckte ich meine Leidenschaft für die Geschichten und Erfahrungen anderer. Das hat möglicherweise mit meiner Kindheit zu tun. Damals verbrachte ich viele Stunden in und ums Bürgerheim «Sonnenwies» in der Wartau. Ich sehe die am Boden sitzenden Kinder vor mir, wie sie den Grossmüttern zuhörten, die in tiefen Korbsesseln sassen, strickten und Geschichten erzählten.»

Nicole Lymann wurde vor 53 Jahren in Walenstadt geboren. Aufgewachsen ist sie in Wartau. Vor knapp 20 Jahren hätte es die Familie Lymann eher zufällig wieder an den Walensee verschlagen, sagt Nicole. Nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester in Illanz – unter den «Fittichen» wunderbarer Dominikaner-Schwestern – und einigen Jahren Berufserfahrung liess sich Nicole Lymann am Kantonsspital St. Gallen zur Fachfrau Anästhesie ausbilden. «Weg von den Betten, ab in den Operationssaal.» Sagts und lacht.

Im Militär ihren Jürg kennengelernt

In dieser Zeit absolvierte die junge Frau ihren Militärdienst, gab ihr Wissen in der Sanitätstruppe weiter. «Das war spannend und lehrreich. Ja, es prägte mich.» Sie lächelt. Sagt: «Ich lernte Jürg, meinen Mann, kennen.» Eine grosse Liebe wuchs. Resultat: vier Söhne. Nicole Lymanns Augen leuchten. «Es gibt kein grösseres Geschenk. Die Familie ist meine Leidenschaft. Ihr hab ich mich mit Leib und Seele verschrieben.» Da passte eine weitere Ausbildung ins Konzept. Mehr anbieten wollte sie als «Pflicht, Druck und Schubladen». «Ich wollte mich kennen lernen, wollte lernen, mit mir umzugehen, für mich einzustehen und vieles mehr. Die Ausbildung zur Mentalcoachin/-trainerin mit Schwerpunkt Wahrnehmung und Intuition «war eine gute Entscheidung».

Erstmals mit Leben und Sterben, mit dem Tod konfrontiert wurde Nicole Lymann in jungen Jahren. «Die Besuche bei meiner Grossmutter waren ein fester Bestandteil meiner Jugend. Mein geliebtes Nani starb, als ich bei ihr weilte.» Die 24-Jährige war überfordert, wollte ihr Nani nicht gehen lassen. «Ich liebte beide starken Grossmütter. Bei der einen stand immer einen Topf Suppe auf dem Herd. Offene Ohren hatten beide für jeden Kummer der Mitmenschen, egal ob Mann oder Frau, arm oder reich. Ich denke gerne zurück an die gemeinsamen Stunden. Meine Urgrosseltern, die sehr lange lebten, sind mir ebenso in lieber Erinnerung. Diese zwei wunderbaren Menschen waren die ersten, die sich von dieser Welt verabschiedeten, seit ich hier Gastrecht habe.»

Was hat dieser Tod damals mit dir gemacht? «Es hat mich meinen Nanis und mir selber sehr nahegebracht.» Nicole Lymann wischt sich mit einem Taschentuch eine Träne von der Wange.

Gute-Erlebnis-Zettelchen wandern ins Glas

Wer sich in der Hospizgruppe engagiert, weiss: Das Leben ist endlich. Memento mori. Gedenke des Todes. Nicole Lymann nickt. «Ich versuche, bewusst und positiv durch den Alltag zu gehen. Dankbar, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen.» Sie strahlt. Sagt. «Dieses Jahr stellte ich ein ‹Gute Erlebnisse›-Glas auf. Erlebe ich schöne Momente, schreib ich sie auf und stecke sie ins Glas. Ende Jahr werde ich diese Zettelchen lesen und mich bedanken, mich ein zweites Mal ganz bewusst freuen.»

Als Geschenk empfindet Nicole Lymann jede Begegnung, die sie am Bett einer Schwerkranken, eines Sterbenden machte. «Diese intensiven Momente sind kaum in Worte zu fassen. Ich spüre Distanz, spüre Nähe. In besonderen Momenten bin ich gar ein wenig mitgestorben. Ich musste aushalten. Musste mitleiden und mitkämpfen. Jeden Tag lerne ich. Erfahre jede Minute und spüre jede Sekunde.»

Sterbende begleiten heisst, loslassen können. Wie schafft das Nicole Lymann? «Rückblickend auf mein Leben gelingt mir das sehr unterschiedlich. In der Regel versuche ich zu begleiten, aufzufangen und zu stärken. Oder ich bin einfach da. In diesen Momenten möchte ich so sein, wie ich bin. Und genau das versuche ich, meinem Gegenüber anzubieten. Gehts dieser Person gut, kann ich loslassen.»

Angst vor dem Sterben hat Nicole Lymann nicht. «Respekt hab ich. Nicht zu wissen, wie mein Ende aussieht, fällt mir nicht leicht. Mich beschäftigt der Gedanke an den Schmerz der Hinterbliebenen.»

«Wir leben weiter in unseren Lieben»

Was nach dem Tod kommt, weiss Nicole Lymann nicht. «Ich glaube, wir leben in unseren Lieben weiter, und ich hoffe auf etwas, das kommt. Was das ist, weiss ich nicht.» Sie lacht. Sagt. «Noch nicht. In nächsten Leben möchte ich mich gerne der Theologie widmen.»

Auf die Frage, ‹was machts mit dir, wenn ich dir sagen könnte, du schläfst heute Nacht still und friedlich ein – für immer›, antwortet Nicole Lymann: «Ich hoffe, ich darf noch etwas bleiben. Um alles zu erledigen, fehlte die Zeit. Aber wenns so wäre, sagte ich ‹auf Wiedersehen, ich verbrachte eine wunderbare Zeit›. Und dann wünschte ich mir von den Zurückbleibenden, schickt mir jeden Tag ein Lächeln.»  (MS, 16. Juni 2020/13. November 2020)

 


KOMMENTAR SCHREIBEN

Your E-Mail-Adresse address will not be published. Required fields are marked *


logo-hospiz-sarganserland-weiss

In der Hospizgruppe Sarganserland engagieren sich gegen 60 Freiwillige in der Begleitung und Betreuung Schwerkranker und Sterbender. Ebenso stehen wir Trauernden bei, nehmen uns Zeit für Demenzkranke und unterhalten eine Hospizwohnung in Mels.

Copyright Hospizgruppe Sarganserland

Wir nutzen Cookies, um Ihnen die bestmögliche Nutzererfahrung zu bieten. Indem Sie auf Akzeptieren klicken, stimmen Sie der Verwendung all unserer Cookies zu.