
Jacqueline Stamm: «Der Tod soll ins Leben eingebettet werden»
Sie ist ein Sonntagskind, Jacqueline Stamm vom Flumser-Grossberg. Unbeschwert und fröhlich erzählt sie von ihren beiden «Müttern», dem Grosi und dem Mami. Von einer schönen Jugend im Zürcher-Unterland. «Ich wohnte während Jahrzehnten in Rafz, war verheiratet, zog zwei Buben gross, gründete und leitete einen Kinderhort, führte eine Secondhand-Börse und wollte dann, als die Jungs erwachsen waren, etwas Neues wagen. Ich zügelte in die Ostschweiz und übe meinen Beruf aus als Sexologische Körpertherapeutin in eigener Praxis.
Im Flumser Kleinberg bewohnte Jacqueline Stamm erst ein Maiensäss, später zog sie um in den Sarganser Bahnhofpark. Heute lebt Jacqueline Stamm oberhalb Flums. Am Wochenende geniesst sie ihr langersehntes «Heimetli» mit ihrem Lebenspartner. «Ich habe meinen Platz gefunden», sagt sie.
«Sterbebegleitung interessierte mich»
Seit August 2020 engagiert sich die empathische Frau in der Hospizgruppe. «Als ich nach Flums auf den Grossberg zügelte, entwickelte sich der Wunsch, einem Netzwerk anzugehören. Mit Beginn der Corona-Pandemie begann ich mich intensiv mit dem Sterben zu befassen. Ich verfasste meine Patientenverfügung. Schrieb meinen Jungs einen Brief, den sie erhalten, wenn ich nicht mehr da bin.» Jacqueline Stamm lächelt, lässt ihr Worte wirken. Sie fährt fort: «Sterbebegleitung interessiert mich. Als ich las, die Hospizgruppe würde engagierte ‹u65-Begleitende› suchen, meldete ich mich für diese spannende Aufgabe, die mich herausfordert. Schwierigen Themen stelle ich mich.»
Da sein für Andere, sei ihr grosses Thema. «Es ist wie bei meiner Arbeit: Bei der Begleitung Sterbender und Schwerkranker bin ich sehr präsent. Wünscht jemand, dass ich einfach dasitze, mach ich das.» Sie lächelt. Sagt dann: «Aber es ist schwierig. Eine Herausforderung für mich.»
Erstmals mit Leben und Sterben, mit dem Tod konfrontiert, wurde Jacqueline Stamm als ihre Grossmutter 1987 starb. «86 Jahre alt war sie. Ihren Tod ahnte sie wohl voraus. Zwei Wochen vor meinem 20. Geburtstag, drückte sie mir ein Couvert in die Hand. 14 Tage später erlitt sie einen Angina Pectoris-Anfall. Ich fuhr im Krankenwagen mit ins Spital, eine Horrorfahrt wars. Ich wusste, s Grosi stirbt wahrscheinlich. Die viertelstündige Fahrt wollte nicht enden. Im Spital starb sie.»
Lange Zeit hätte sie ihr gefehlt, sagt Jacqueline Stamm. Oft habe sie Tränen vergossen. Gleichzeitig habe sie Platz gemacht. «Ich lernte meinen Mann kennen, wir konnten ihr Haus umbauen.» Jacqueline Stamm schweigt kurz, sagt dann: «Nach einem Abschied kommt Neues.»
Ein weiteres prägendes Ereignis war, als Jacquelines Schwiegervater an Lungenkrebs erkrankt war. Niemand habe es wahrhaben wollen. Niemand habe mit ihm übers Sterben geredet. «Ich begleitete ihn regelmässig zum Bestrahlen, dabei hatten wir gute Gespräche. Als ihm der Arzt sagte: ‹Wir sehen uns in einem halben Jahr wieder›, schauten wir uns an, wissend, es geht nicht mehr so lange.»
Zwei Monate später «fand» Jacqueline Stamm den sterbenden Schwiegervater im Spital wieder. «Er lag in einem gekachelten Badezimmer. Da wehrte ich mich. Eine Stunde später wurde er in ein Zimmer verlegt – in der Nacht starb er.»
Zur Trauer über seinen Tod gesellte sich Entsetzen. Das neu erstellte Gemeinschaftsgrab sah vor, dass die Asche inmitten des grosszügigen Grabfeldes in eine Art Gully geschüttet wurde. «Keine würdevolle Art, einen geliebten Menschen beizusetzen», sagt Jacqueline Stamm. Für die älteren Bewohnerinnen und Bewohner der Gemeinde sei dieser Anblick sehr schmerzlich gewesen. Pietätlos. «Ich machte meinem und dem Ärger der Bevölkerung Luft, schrieb einen Leserbrief und verfasste eine öffentliche Anfrage an den Gemeinderat.» Kurze Zeit später wurde der Gusseisendeckel durch Sandstein ersetzt und mehrere Rosenstöcke zieren seither den kahlen Kiesplatz.
«Ich bin froh, ist das Leben endlich»
Wer sich in der Hospizgruppe engagiert, weiss: das Leben ist endlich. Was bedeutet das für dein Leben, will ich wissen: «Ich bin froh, ist es endlich», sagt Jacqueline Stamm. «Das gibt eine andere Qualität. Ich sehe Kreisläufe, sehe Leben entstehen und sehe es vergehen.» Sie schweigt, schaut mich an. Erzählt dann von Krankheitstagen. «Ich lag eine Woche mit 40 Grad-Fieber zuhause, dachte: Jetzt könnte es zu Ende gehen.» Sie sei ruhig geworden und gleichzeitig erschrocken, dass es sie nicht ängstigt. «Mein Partner und ich, wir reden viel darüber. Seither nehme ich mich nicht mehr so wichtig.» Sie lacht, sagt dann. «Ob ich noch ein oder zwanzig Jahre lebe, ist egal.» Bis es so weit ist, will Jacqueline Stamm ihre Partnerschaft geniessen, will sich voll drauf einlassen.
Und wenns sein muss, kannst du loslassen, frage ich. Jacqueline Stamm denkt nach und nickt. «Ich habe das Gefühl, ja, das kann ich. Das konnte ich immer. Nehmen wir den Kinderhort. Ich baute ihn mit viel Herzblut auf und engagierte mich sehr stark. Sieben Jahre lang. Dann hörte ich auf, verabschiedete mich – und ging nie mehr zurück. Wenn etwas vorbei ist, spüre ich es. Ich ziehe niemanden zurück ins Leben. Auch meinen Vater nicht.»
Hast du Angst vor dem Sterben?
Nein, ich habe Angst davor, die Selbstständigkeit zu verlieren, die Selbstbestimmtheit. Ich bin sicher: Ich finde, das zu mir passende Sterben.
Glaubst du an ein Weiterleben nach dem Tod?
Nein. Werden und vergehen. Ich bin sicher, dass wir nicht als Körper Verstorbenen begegnen.
Was machts mit dir, wenn ich dir sagen könnte, du schläfst heute Nacht still und friedlich ein. Für immer.
(Sie lacht) Mir sagt niemand, wann ich sterbe. Ich werde es wissen. Werde den richtigen Zeitpunkt kennen.
Jacqueline Stamm findet, wir könnten den Tod enttabuisieren, die Angst davor ablegen, in dem wir drüber reden, in dem wir für jemanden da sind, wenn es uns braucht. «Der Tod soll ins Leben eingebettet werden.Das Sterben ein natürlicher Akt im Leben sein.»
Danke fürs Gespräch. (MS, 20.12.2021)