Heidi Hässig: «Der Dienst am Nächsten entspricht meinem Charakter»

Heidi, wer bisch du? Die Frage ist simpel, und Heidi Hässig antwortet mit entwaffnender Antwort: «Ich bin ich. Ich bin Heidi. So haben sie mich angenommen.»

Heidi Hässig: «Der Dienst am Nächsten entspricht meinem Charakter»

28. März 2021 0
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Heidi, wer bisch du? Die Frage ist simpel, und Heidi Hässig antwortet auf eine entwaffnende Art und Weise: «Ich bin ich. Ich bin Heidi. So haben sie mich angenommen.» Wir lachen. Wäre da Eis gewesen, es wäre gebrochen. Aber da war kein Eis. In Walenstadt kennen wir unsere Heidi.

Ihre Tage, ihre Stunden sind mit freiwilliger Arbeit gefüllt. Seis im «Tischlein-Deck-Dich», im Museum Bickel, bei ihrem Engagement für die Kirche, beim Wandern mit andern, bei Sitzwachen für unseren Verein, bei den Sitzungen und Höcks. Heidi nimmt sich jeweils Zeit für einen Schwatz, fragt einen nach dem Befinden. Sie hört zu, nimmt Anteil und kann herzlich lachen.

Heidi engagiert sich für schwer kranke Menschen in ihrer letzten Lebensphase, für Sterbende, für Einsame. Was macht das mit dir, will ich wissen. «Solche Einsätze erfüllen mich mit grosser Zufriedenheit», sagt sie und ihre Augen strahlen.

Es sind die Menschen, die Heidis Tun und Lassen erfüllen. Aufgewachsen als Zweitgeborene mit fünf Geschwistern erledigte sie schon früh begleitende Aufgaben. «Für den Jüngsten war ich eine Art Ersatz-Mama. Wir pflegen alle ein gutes Verhältnis zueinander. Verbrachten eine schöne Kindheit, führten ein gutes Leben.»

Welschlandjahr im Berner Jura

Nach der zweiten Sek war Schluss mit Schule. Stattdessen musste Heidi ins Welschlandjahr in den Berner Jura. Dort arbeitete sie bei einer Familie mit fünf Kindern. «Monsieur arbeitete als Lehrer», sagt sie, «und Madame erhielt jeweils das Frühstück ans Bett.»

In Heidis Jugend war Vater Jakob ein wichtiger Ansprechpartner. «Ich verbrachte gerne Zeit mit ihm zusammen und packte die Chance, Verkäuferin im eigenen Comestibles-Geschäft zu lernen. Mutter Rosa war zuständig im Verkauf. Sie war streng. Eine temperamentvolle Frau mit italienischen Wurzel. Wenn wir etwas nicht verstehen sollten, redete sie italienisch. Vater war Organisator und Gärtner. Er pflanzte so viel Gemüse an wie möglich, und wir verkauften es.» Heidi strahlt.

«Ich blieb im Geschäft, die Eltern liessen mich schaffen, und ich freute mich auf die Gartenstunden mit Vater. Freizeit hatte ich nur im ‹Blauring›. Die Lager waren unsere Ferien, und die verdienten wir ab bei den Eltern, bezahlten sie also selbst.» Wen wunderts, nistete sich in ihrem Hinterkopf der Gedanke ein, ich will weg. Heidi las von Einsätzen im Ausland, dachte, wenn ich ein Vögelein wär …

Damals, Ende 1964, suchte das Katholische Laienwerk in Fribourg Freiwillige für Einsätze weltweit. Heidi interessierte sich für Algerien. «Ein Leiter meinte, die Arbeit auf einer Krankenstation wäre was für mich. Ich machte den Vorbereitungskurs. Vater sahs nicht gerne, wollte mich nicht ziehen lassen. Im Gegensatz zur Mutter. Sie war stolz, dass sich eines ihrer Kinder in der Mission engagiert.»

Es sei eine glückliche, eine erlebnisreiche Zeit gewesen, sagt Heidi. «Wir wohnten in einem Kloster in Sidi-Bel-Abess, und ich arbeitete ausserhalb der Stadt auf einer Krankenstation. Ich wuchs rein in diese Arbeit, erlebte viel Gastfreundschaft, pflegte die Kontakte zu den Patientinnen, Patienten und ihren Angehörigen. War ich alleine unterwegs, hatte ich nie Angst.» Heidi lacht. Sagt: «Ich hätte dreimal heiraten können.»

Der Algerienaufenthalt war die prägende Lebenszeit für die Stadtnerin. Sie fühlte sich wohl, spürte, wie sehr sie gebraucht wurde. Deshalb wollte sie ihren Aufenthalt verlängern. Dafür sammelte die junge Frau Geld in der Schweiz, machte Vorträge. Die nötigen Franken waren schnell verdient. Die Tochter lud ihre Eltern für einen Ferienaufenthalt nach Algerien ein – und sie kamen. Heidi hängte nochmals zwei Jahre an.

Länger wollte sie nicht in Nordafrika bleiben. Zumal in dieser Zeit die Unabhängigkeits-Wirren überhandnahmen. Heidi Hässig sagt, sie hätte keine Forderungen mehr gehabt ans Leben. «Ich sagte mir, ich nehme, wie es kommt, glaube an die Vorsehung und mache mir keine Sorgen. Ich weiss, mir wird gegeben, alles kommt.»

Den Mut habe sie in den vier Algerienjahren nie verloren. «Den einzigen Tiefpunkt erlebte ich im dritten Jahr. Auf einer Reise in die Wüste besuchten wir ein Kloster der ‹Kleinen Schwestern›. Ich verbrachte viele Stunden in der bescheidenen Kapelle, der Wüstenkoller hatte mich gelähmt. Ich überlegte mir, bei den Nonnen zu bleiben.»

Aber, sagt Heidi, ich konnte das Jammertal verlassen. Überlegte mir: Kloster ja, Kloster nein. Alle hätten sie den Kopf geschüttelt. Hätten gesagt, Heidi, mach das nicht. Komm nach Hause, es gibt genug Arbeit.

Die Äbtissin der Kleinen Schwestern war eine weise Frau, sie riet der jungen Schweizerin: «Gründe dein eigenes Kloster.» Heidi sagt heute: «Wäre ich ins Kloster gegangen, hätte ich nicht im richtigen Leben gestanden.

Und so verliess sie Nordafrika nach vier Jahren und tauchte im November 1970 wieder ein ins Stadtnerleben: «Das war hart», sagt Heidi. «Heimweh nach Algerien plagte mich. Ich war eine junge Frau, hatte aber, im Gegensatz zu andern, die Welt gesehen.» Und sie sei bald wieder dagewesen für den Laden, für die Kunden, die Nachbarn.

Heidi wurde schnell klar, wenn sie das Comestibles-Geschäft der Eltern übernehme würde, wolle sie daneben keine Familie haben. «Ich hätte zu wenig Zeit gehabt», sagt sie. «Der Laden war mein Kind, die Kundinnen und Kunden eine Art Familie. Was hörte ich alles für Geschichten, nahm Teil an ihrem Leben. Hörte von Freud und Leid. Es war eine schöne Zeit.» Sie dauerte über vierzig Jahre. Dann, vier Jahre vor der Pensionierung, hätte sie gemerkt, es rentiert nicht mehr so recht. «Im Herbst 2008 schloss ich die Ladentüre – für immer», sagt Heidi.

Die Geschäftsauflösung gab viel Arbeit, und als die getan war, wusste Heidi Hässig: «Da kommt etwas.» Zuerst hätten sich die Verantwortlichen des Museums Bickel gemeldet. Heidi lacht: «Ich und Kunst? Das geht doch, habe ich mir gesagt.» Danach fragte der Pfarreirat an, ob sie mitarbeiten möchte. Sie wollte und erhielt das Ressort Diakonie. «Das war mein Wunsch», sagt sie, «der Dienst am Nächsten entspricht vollumfänglich meinem Charakter. Ich bin als Dienerin auf der Welt.» Und sie teile gerne. Vater habe jeweils gesagt: «Es hat für alle Platz am Tisch, und die Wurst teilen wir uns.» Sie habe viel von ihm gelernt.

Jakob Hässig starb mit 80 Jahren. Er sei sehr krank gewesen, sagt Heidi, habe an Parkinson gelitten und mehrere Herzinfarkte überlebt. «Einen Monat nach seinem Achtzigsten, am Montag, 6. Januar 1996, half er mir, das Auto auszuladen, da wurde ihm schwindlig, und er setzte sich hin beim Chüngelistall. Ich gesellte mich zu ihm, versprach, nichts zu sagen am Tisch. Er ass nicht viel, legte sich dann hin, und ich ging zurück in den Laden, bis Mutter mich aufgeregt rief. Ich sagte ihr, sie solle dem Doktor telefonieren.» Dann hielt die Tochter den Kopf des sterbenden Vaters. «Ich bat ihn, mich anzulachen. Er tats, schaute in meine Augen, atmete aus und starb.» Heidi schweigt kurz. Sagt: «So friedlich kann Sterben sein. Vater schenkte mir seinen letzten Atem. So schön. Ich wusste, jetzt kann ich den Tod annehmen.»

Menschen in ihrer letzten Lebensphase betreuen

Heidi Hässig, du betreust Menschen in ihrer letzten Lebensphase, was macht das mit dir? Wie erlebst du das? «Dann bin still, sitze an einem Bett und beobachte, nehme auf irgendeine Art Kontakt auf mit der Kranken, dem Sterbenden. Vielleicht schiebe ich meine Hand unter die seine, unter die ihre. Ich spüre nach, beobachte, wie sich die Atemzüge beruhigen. Ich erlebte noch nie etwas Abweisendes. Manchmal rede ich mit den Betroffenen. In der Regel werden die Menschen ruhiger, ihr Atem geht besser. Reagiert jemand nicht auf mich, bin ich einfach da, beobachte.» Wenn jemand dann sterbe, sagt Heidi Hässig, habe er sein Leben losgelassen, sei in der anderen Welt. «Ich segne die Leute, lasse Zeit vergehen.» Heidi lacht mich an. «Er durfte, was ich einmal darf.»

Dann hast du keine Angst vor dem Sterben, will ich wissen. «Überhaupt nicht», sagt Heidi Hässig. «Ich wünsche mir einzuschlafen. Sterben muss was Schönes sein.» Und glaubst du an ein Weiterleben nach dem Tod? «Wer weiss. Ich frage mich das nicht. Ich will es gar nicht wissen. Es sei ein Wiedersehen, heisst es in einem Lied, das wir damals in Algerien sangen.»

(MS, 23. März 2021)

 


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