Dr. Alois Birbaumer: «Mein Leben mit dem roten Faden»  

Alois Birbaumer, Vereinsmitglied aus Luzern, erzählt, warum er sich für die Hospizbewegung engagiert. «Mein roter Faden soll meine persönliche Erfahrung mit der menschlichen Endlichkeit, mit meiner eigenen Endlichkeit aufzeigen, ohne dabei die Freuden des Lebens zu vergessen.»

Dr. Alois Birbaumer: «Mein Leben mit dem roten Faden»  

9. Januar 2020 0
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Samstag, 10. Oktober 2020. Welthospiz-Tag  im Alten Kino Mels. Begeistert vom Projekt «Eine Geschichte für das Palliativforum Sarganserland». Ich wollte unbedingt hören, welche Geschichte mein Freund Martin Schuppli  auf der Bühne vorstellen würde. Ich war begeistert von der Idee der Hospizgruppe, auf diese Art und Weise das Palliative-Care-Netzwerk vorzustellen und Interessierten zu zeigen, wie man zu Hause sterben kann. Würdevoll, ohne Angst und Schmerzen.

Beim anschliessenden Gespräch hinter Masken lernte ich Elisabeth Warzinek kennen, Nicole Lymann sowie Rosmarie Mischler. Da war der Weg zu einer Mitgliedschaft nicht mehr weit. Beim Abschied sagte die Präsidentin zu mir: «Dann lesen wir ja sicher bald einmal mehr über dich.» So ist es. Hier ist sie, meine «Mehr Lesen»-Geschichte. Folgen Sie meinem roten Faden.

Der rote Faden war eine besondere Einrichtung bei der englischen Marine. Durch alle Taue der königlichen Flotte war ein roter Faden geflochten. Er zog sich durch das ganze Tau hindurch. Ihn herauszuwinden, ohne das Tauwerk aufzulösen, war unmöglich. Goethe übernahm den Gedanken dieses roten Fadens in seinem Werk «Wahlverwandtschaften».

Die Endlichkeit vor Augen
Mein roter Faden soll meine persönliche Erfahrung mit der menschlichen Endlichkeit, mit meiner eigenen Endlichkeit aufzeigen, ohne dabei die Freuden des Lebens zu vergessen.

Geboren in einem kleinen Bauerndorf im Luzerner Hinterland Mitte der 1940er-Jahre, erlebte ich bereits als kleiner Schulbub, wie endlich das Dasein ist – und zwar für alle Lebewesen. Mich faszinierte das Leben auf den Bauernhöfen, die Tiere hatten es mir angetan. Ein Nachbar, Kundenmetzger, nahm mich jeweils mit zur «Metzgete». Bei einer Bernerplatte mit Blut- und Leberwürsten knüpfte ich den roten Faden «Endlichkeitserfahrung». Musste ein Schwein sterben, das ich tags zuvor noch gefüttert hatte, war das für mich eine Tatsache. Ich wusste es, als das Tier noch lebte.

Anders war es dann an den Beerdigungen, wo ich als Ministrant teilnehmen musste. Ganz nah stand ich jeweils an den Gräbern, die der Totengräber am frühen Morgen ausgehoben hatte. Die verstorbene Frau oder den verstorbenen Mann kannte ich. Das Dorf war klein, jeder kannte jeden. Warum jemand gestorben war, warum jemand nicht mehr lebte, trieb mich nicht um. Solche Fragen kannte ich nicht. Leben endet, das ist eine Tatsache. Wenn ich in die Trauergemeinde schaute, sah ich jeweils einige der Gäste weinen. Mich schmerzte die Tatsache ebenfalls, diesen Menschen nie mehr sehen zu können. Und so musste ich hin und wieder eine Träne von meiner Wange wischen.

Schon als Kind interessierten mich Gottes Äcker
Mit meinem ersten Fotoapparat, Vaters Zeiss-Ikon, besuchte ich vorwiegend Friedhöfe. War es der gesponnene rote Faden? Ich weiss es nicht. Die Mutter konnte meine Streifzüge mit der Kamera über die Kirchhöfe nicht verstehen. Und ich, ich konnte es ihr nie erklären.

Jahre später, während den Anfängen meines Medizinstudiums, besuchte ich eine Nicht-Pflicht-Vorlesung über medizinische Psychologie. Dozent Gion Condrau beschrieb ebenfalls die Problematik des Todes. Noch heute begleitet mich sein 1984 erschienenes Buch «Der Mensch und sein Tod. Certa moriendi condicio».

Der rote Faden kam während meines Medizinstudiums nicht zur Geltung. Theorie und Praxis drehten sich ausschliesslich um die Erhaltung des Lebens, dabei fand der Tod keine Erwähnung. Der mischte sich ein, als ich dann Assistent in Lugano war. Da holten mich die Krankenschwestern jeweils, wenn ein Patient, eine Patientin im Sterben lag. Die Pflegfachfrauen hatten Mühe, ich genauso.

In der Praxis als Kinderarzt wurde ich ebenfalls mit dem Tod konfrontiert, nicht häufig allerdings. Ein plötzlicher Kindstod, Unfälle, tödlich endende Stoffwechselerkrankungen sowie Krebs, das waren Momente, als sich der rote Faden wieder eindeutig zeigte. Der Kontrast zu den medizinischen Erfolgen und das unausweichliche Ende unseres Daseins bewegten mich besonders beim Sterben von Kindern. Dann stand ich bei der Beerdigung, wie als Ministrant damals, wieder am Rand eines Grabes. Ich konnte und wollte die Tränen nicht unterdrücken.

Im Angesicht des Todes zeigte sich der rote Faden
Zweimal erlebte ich eine Nahtoderfahrung. Der rote Faden «Memento mori» kam da besonders zum Vorschein. Kurz bevor ich jeweils das Bewusstsein verlor, begleitete mich der Gedanke: Ich hatte ein gutes, ein schönes Leben.

Als ich dann Ende 1999 vorzeitig die Kinderarzt-Praxis in Cham ZG aufgab und als Oliven- und Weinbauer in die Toscana zog, begleite mich der rote Faden weiter. Ich sprach mit den alten, sterbenden Olivenbäumen und machte ihnen Mut. Ich versuchte, alte, verknorzte Rebstöcke mit einem Verjüngungsschnitt zu neuem Leben zu erwecken – mit unterschiedlichem Erfolg.

Die Leute im Städtchen kannten mich und meine kleine, bescheidene Akupunkturpraxis. Zum Dottore fanden sie Vertrauen. Es ergaben sich Gelegenheiten, sterbende Patientinnen, Patienten in ihren letzten Tagen zu begleiten, zu betreuen. Eine grosse Hilfe war mir die Italianità mit ihrer Spontaneität, ihrer ausgeprägten Empathie. Die Erfahrung mit der grossen Nähe, der offenen Kommunikation brachte mir in den kommenden Jahren viel Verständnis für die Sterbenden und vor allem für die Hinterbliebenen, die Trauernden.

Genau das entspricht dem, was ich bei Sterbebegleitgruppen, bei Hospizgruppen immer wieder antreffe. Ihr humanitäres Angebot lässt bei mir eine besondere Achtung vor den dort freiwillig arbeitenden Personen aufkommen.

In der Zeit meines Toscana-Aufenthaltes wurde ich durch den Tod eines Bruders und den Tod unserer Eltern besonders mit meiner eigenen Endlichkeit konfrontiert. Der Tod von Familienangehörigen liess den roten Faden eindeutig ausgeprägter zum Vorschein treten.

Zurück in der Schweiz, Ende 2005, wurde ich angefragt, das Präsidium des Hospizvereins Zug zu übernehmen. Seither begleitet mich der rote Faden Tag für Tag. Etwa bei der Gründung des Palliativ-Vereins Zug und des Palliativ-Vereins Zentralschweiz, wo ich beim Aufbau mitgeholfen habe. Das waren bereichernde Erfahrungen.

Seit einigen Jahren engagiere ich mich als Beirat beim Internetportal DeinAdieu.ch. Dabei bringen die Treffen mit meinem Freund Martin sehr viele anregende Diskussionen mit sich. Gespräche über die Endlichkeit, vor allem über das selbstbestimmte Sterben. Wir beide sind wohl epikureisch* angehaucht, geniessen das Leben mit Humor, vergessen dabei unsere Endlichkeit nicht. Jetzt in der Pandemie-Zeit zeigte sich der rote Faden eindeutig prägnanter. Und irgendeinmal wird sich mein roter Faden auflösen, hoffentlich mit nur geringem psychischem und physischem Schmerz. (AB, 30. Dez. 2020)

*Epikur, ein griechischer Philosoph, lebte 341–270 v. Chr. war Begründer des Epikureismus: Ausgehend vom atomistischen Materialismus versuchte er die Eudaimonie (=Glückseligkeit im Leben) zu lehren. Sein Ziel war, die Lebensfreude anzustreben, Abwesenheit von Schmerz und Leid, ein gelassenes Dasein ohne Angst vor dem Tod in einem gesund erhaltenen Körper. So kann man seinen bekannten Satz verstehen: «Wenn ich bin, ist der Tod nicht. Wenn der Tod ist, bin ich nicht».


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